Inneres Wachstum durch kulturellen Lebensstil
Das Bekenntnis, einen kulturellen Lebensstil praktizieren zu wollen, führt leicht zu Missverständnissen. Schnell wird vom persönlichen Umfeld prätentiöses Verhalten unterstellt – zum Beispiel in der Form, es ginge dabei um die Außenwirkung, die Steigerung des eigenen Sozialprestiges.
Rein sprachlich deutet die Begrifflichkeit „kultureller“ Lebensstil jedoch auf das Gegenteil hin, auf das Streben nach innerem Wachstum – während „kultivierter“ Lebensstil tatsächlich etwas bezeichnen würde, das eher Äußerlichkeiten in den Mittelpunkt stellt.
Unter welchen Bedingungen kommen Menschen überhaupt dazu, inneres Wachstum direkt anzustreben?
Geläufig ist der Erklärungsversuch des US-Psychologen Abraham Maslow, der 1943 die Theorie einer Bedürfnishierarchie entwickelte – und kurz vor seinem Tod 1970 verfeinerte. Inzwischen gibt es differenziertere Ansätze – das auch als Bedürfnispyramide bekannte Modell überzeugt aber zumindest Küchenpsychologen spontan.
Demzufolge müssen verschiedene körperliche, materiell-äußerliche, soziale und individuell-praktische Bedürfnisse gestillt sein, bevor sich Menschen mit größerer Intensität hauptsächlich der letzten Stufe zuwenden können und wollen. Diese letzte Stufe ist die Selbstverwirklichung, zu der bewusst oder unbewusst ein kultureller Lebensstil hinführt.
Die Suche nach äußerer Anerkennung ist im Modell eine Stufe unterhalb der Selbstverwirklichung angesiedelt, denn die Selbstverwirklichung und damit der kulturelle Lebensstil sind mit feineren Aspekten verknüpft.
Selbstverwirklichung beginnt mit der Entfaltung subtiler Schichten des eigenen Intellekts und der eigenen Emotionen. Wohlgemerkt ohne ein konkretes Ergebnis dieses Prozesses vorwegzunehmen, weil er nur dann Transzendenz und eventuell sogar Sinnfindung ermöglichen kann.
Ihnen nähert sich der Mensch über die Beschäftigung mit Kunst, Philosophie und Wissenschaft an.
Als Besucher von Konzerten, Theatern, Ausstellungen bildender Kunst, Kinos und Vorträgen, als Leser guter Literatur. Oder als Nutzer elektronischer Medien und des Internets, die heute Ähnliches erlauben. Hinzu treten innovativere, interaktive Formen der Kunst- und Philosophie-Rezeption, die fließend den Übergang dazu herstellen können, selbst schöpferisch tätig zu werden.
Stets geht es darum, das, was auf den ersten Blick als richtig erscheint, was den Instinkten genügt, zu hinterfragen – wieder und wieder. Um vielleicht doch manches Perfekte zu entdecken in einer Welt, die gewöhnlich nicht perfekt ist. Erstaunlich, wie der kulturelle Lebensstil damit der “Kalokagathia” gleicht, dem Bildungsideal der Einheit von Wahrem, Gutem und Schönem bei den alten Griechen – im 5. Jahrhundert vor Christus.